GIST Helmut allein

Das gute Leben ist jetzt

März 2022 – Ein Blick zurück

Wieder wird es Frühling, wie damals. Heute, im März 2022, liegt meine Diagnose fünf Jahre zurück. Es ist nicht mehr so, als sei es gestern gewesen, und doch ist diese intensive Zeit gut erinnerlich. Inzwischen schaue ich mit Abstand auf das Jahr 2017: auf die Diagnose, die getroffenen Entscheidungen, die Zeit in den beiden Kliniken.

Die körperlichen Wunden sind lange geheilt. Ich brauche nur noch relativ selten Medikamente, und allein das ist ein kleines Wunder. Ich hatte Zeit, mich in dem neuen Leben einzurichten und mit meinem veränderten Körper anzufreunden. Auf die Beziehung zu meinem Körper treffen die bei einer kirchlichen Trauung gesprochenen Worte zu: in guten wie in schlechten Tagen, in Gesundheit und in Krankheit. Ich habe diesen einen Körper. Einen anderen bekomme ich nicht.

Der Weg zur Diagnose

Wenn ich bis ins Jahr 2016 zurückgehe, dann denke ich an den schmerzbehafteten und aufreibenden Hindernislauf, der fast elf Monate andauerte. Ärztliche Termine, CT- und MRT-Untersuchungen, drei kürzere Krankenhaus-aufenthalte reihten sich durchmischt aneinander.
Ich kenne die Befunde der CT-Bilder und dreier MRT-Untersuchungen. Beschrieben wird eine größere wolkig aussehende Struktur in der rechten Beckenpfanne, die sich anstelle des fehlenden Knochengewebes darstellt. Allein die Ursache ist noch unklar.

Und es gibt die älteren CT-Aufnahmen vom Dezember 2014. Schon damals sind die gleichen Stellen sichtbar, kleiner zwar - und leider nicht im Befund beschrieben. Aber das sei in keinem Fall Krebs, hatte mir im Spätsommer 2016 ein Internist während eines Klinikaufenthaltes erklärt. Denn Krebs wachse viel schneller und hätte sich in der dazwischen liegenden Zeit an keine innerkörperlichen Grenzen gehalten. Dann kommt der Tag meiner Diagnose. Ich weiß noch, wie ich Ende März 2017 auf dem Weg in die Tumororthopädie des Uniklinikums bin. Es ist mild und die Vögel pfeifen aus den Bäumen. Zwei Wochen zuvor war mein Beckenknochen punktiert worden.
Ich bin optimistisch. Dieses “Etwas” in meinem Becken wird bald der Vergangenheit angehören, aus dem Knochen entfernt werden und mit Knochenzement ausgegossen. Ich werde wieder schmerzfrei sein, werde wandern können und Radfahren und so leben wie zuvor. Anfang 2012 war ich in meine Lieblingsstadt gezogen. Ich arbeite dort und bin glücklich – von den gesundheitlichen Problemen abgesehen.
Die junge Tumororthopädin empfängt mich. Sie möchte wissen, wie es mir geht. Mir geht es schon wieder richtig gut. Im Gegensatz zur ersten Knochenpunktion im Oktober 2016 laufe ich schon ohne Gehhilfen. Die Ärztin schaut mich aufmerksam an. “Es ist schön, dass es Ihnen gut geht. Denn ich habe keine guten Nachrichten. Sie haben ein Chondrosarkom im rechten Becken, einen bösartigen Knochentumor. Der Histologie nach ist er G2 klassifiziert und damit high grade, also höhergradig bösartig eingestuft.”
Ich weiß noch, wie ich anfange zu diskutieren: Ob es nicht ein gutartiger Knochentumor sein könne.
Nein, ist es nicht. Im rechten Becken, gegenüber dem Hüftkopf, hat sich über Jahre ein relativ langsam wachsender und von Knorpelgewebe ausgehender Knochenkrebs gebildet. Diese Art Knochensarkom spricht nicht auf Chemotherapie an und nur sehr bedingt auf Bestrahlung.

Therapie: Die Qual der Wahl

Ich lasse mich beraten; möchte mich für die beste Variante entscheiden. Die Tumor-orthopäden empfehlen, Teile des rechten Beckenknochens operativ zu entfernen und eine Beckenteilprothese einzubauen. Die Radiologen favorisieren die Protonentherapie, eine spezielle Form der Bestrahlung. Ich fühle mich wie zwischen Baum und Borke. Am liebsten möchte ich mein rechtes Becken behalten. Vielleicht kann ich dann später noch wandern? Wunschträume sind das.

Ich unterschreibe zunächst einen Behandlungsvertrag für die Protonentherapie. Da ich mir unsicher mit dieser Entscheidung bin, fahre ich in ein Sarkomzentrum.
Operieren – so lautet die Zusammenfassung des Tumororthopäden. Das Chondrosarkom sei zu groß für eine Bestrahlung und trete erfahrungsgemäß später erneut auf. Auf die Empfehlung eines Bekannten, er ist ebenfalls Sarkompatient, vereinbare ich einen Termin in einem zweiten Sarkomzentrum. Meine Tochter begleitet mich dorthin. Die ärztliche Aussage ist nahezu passgleich - mit dem Unterschied, dass die hiesigen Tumororthopäden meine rechte Beckenhälfte nahezu vollständig entfernen wollen. Ganz - oder gar nicht. Ich höre mir aufmerksam die ärztliche Begründung an, und diese Begründung nimmt mir jegliche Unschärfe, jeden Zweifel. Hier werde ich mich operieren lassen.

23. Mai 2017 / Der Cut

Der 23. Mai 2017 trennt mein Leben in ein Davor und Danach. Die rechte Beckenschaufel wird entfernt (medizinisch: interne Hemipelvektomie) und eine Tumorprothese im “leeren” Becken eingesetzt. Im Idealfall werde ich in der Wohnung mit nur einer Gehhilfe laufen können. Draußen werde ich immer zwei Gehhilfen brauchen.
Der Idealfall nimmt einen anderen Weg. Ich bekomme eine tiefe Beckeninfektion. Die implantierte Prothese muss nach zwei Wochen entfernt werden. Ein Spacer wird als Platzhalter eingesetzt. Anstelle der Tumor- prothese nun diese Ersatzlösung, ein langer metallener Stab, das obere Drittel eingebettet in Knochen- zement. Knapp zwei Monate nach dem 23. Mai laufe ich die ersten Schritte an Gehhilfen.


Heute

Vieles, was ich früher getan habe, geht nun nicht mehr: kilometerlange Wanderungen, Radfahren, auf Berge steigen, Boot fahren, tanzen, stabil und schmerzfrei stehen, Dinge in den Händen mal schnell von A nach B tragen, längere Reisen unternehmen, Schnee schieben, Rasen mähen, Rabatten umgraben.
Trotzdem liebe ich mein Leben, mit der körperlichen Behinderung, mit allen Einschränkungen, vielleicht sogar mehr als zuvor. Ich weiß, wie viel Glück ich bisher gehabt habe und dass es mich ohne das ärztliche Können wohl nicht mehr gäbe.
Übersetzt aus dem Englischen heißt to be patient: geduldig sein. Geduld gehört nicht zu meinen liebsten Übungen. Ich habe aber gelernt, geduldiger zu sein, abzuwarten und zu schauen, wie der Körper heilte. Jede kleine Verbesserung hieß es anzunehmen und auszubauen. Denn der Körper schafft am Ende viel. Der Rest ist Anpassung, Improvisation, Verzicht ... und oft stille Freude.
Daneben bedeuten diese Veränderungen, Träume einzupacken und die Minuszeichen im neuen Leben zu akzeptieren. Es bedeutet, nicht der früheren Unversehrtheit nachzuhängen und Ausschau nach den Pluszeichen zu halten.
Die Freiräume, die ich mir inzwischen geschaffen habe, konnte ich 2017 noch nicht sehen. Nach großen Eingriffen braucht es Zeit, damit der Körper heilen kann. Ich brauchte Zeit, mental entspannter zu werden und mich einzurichten.
Meine alte Heimat hat mich wieder. Ich bin zurückgekehrt, ungewollt. Anders wäre es nicht gegangen. Meine Lieblingsstadt bleibt meine Heimat Nr. 2. Sie besuche ich, wenn die Sehnsucht sich mit einem Ziehen in der Brust meldet.
Leben heißt nicht, Anspruch auf ein schönes und leichtes Leben zu haben. Ich lebe allein, mit allen Vor- und Nachteilen. Ich darf eigene Entscheidungen treffen und verantworten. Ich muss mit dem Alleinsein zurecht- kommen. Im Alltag, in Hochphasen, an grauen Tagen. Vieles ist beschwerlicher als früher und ich bin lang- samer geworden, wenn es auch aussieht, als laufe ich recht flüssig an den Gehhilfen. Seit einigen Jahren fahre ich wieder einen Pkw, was mir den Alltag erleichtert und Ausflüge und Verabredungen erlaubt.

Mit manchen Erfahrungen habe ich gehadert, beispielsweise mit der Art und Weise, mit der die Krankenkasse auf eine schnelle Berentung drängte, keine vier Monate nach der großen OP und bevor ich überhaupt zu Hause war. Auch die unempathische Begutachung durch die Pflegekasse und der negative Bescheid zählen zu den weniger guten Erinnerungen. Und doch bin ich heute zufrieden mit meinem Leben, gerade weil ich erfahren habe, dass eine stabile Gesundheit nicht selbstverständlich ist.


Pluszeichen

Unterstützung habe ich durch Familie und Freunde erfahren. Letztlich aber bin ich meinen Weg gegangen. Und ich kann nur jeden Patienten ermutigen, den für ihn passenden Weg zu finden und zu beschreiten. Anstelle des früheren Vollzeitjobs arbeite ich heute für meinen früheren Arbeitgeber auf Hinzuverdienstbasis im Home Office. Das ist eines der stabilen Pluszeichen. Ab und an darf ich meinen ältesten Enkel betreuen. Ich handarbeite, lese und fotografiere und ich gehe ausgesprochen gern ins Kino. Zu meinen alten Hobbys ist ein neues hinzugekommen: das Schreiben. Schreibend erkenne ich Zusammenhänge, fasse Geschehenes in Bilder und Dialoge, kann es im guten Sinn ablegen.
Am liebsten aber bin ich draußen unterwegs. Ich kann kürzere (und manchmal längere) Strecken allein bewältigen. Wenn ich im Wald bin oder an unserem Flüsschen Wipper stehe, dann bin ich froh, all das genießen zu können. Oft denke ich dann: Das gute Leben - das gute Leben ist jetzt!
Die Natur zeigt mir in jeder Jahreszeit ihre Schönheit. Sie zeigt, wie bei Tauwetter der Schnee von den Zweigen tropft und dass aus einer umgestürzten Weide neue Triebe wachsen können. Sie zeigt, wie im besten Fall alles weitergeht.

Mein herzlicher Dank gilt den behandelnden Ärztinnen und Ärzten in Dresden, Münster und in Nordthüringen. Ganz besonders danke ich den Ärztinnen und Ärzten des Uniklinikums Münster, die im Frühsommer 2017 den Grundstein für meine spätere Gesundung gelegt haben.