Klinische Studien sind eine wesentliche Stufe bei der Entwicklung neuer Behandlungsmethoden für Krebs und andere Erkrankungen. Sie zeigen Forschern, was zum Wohle der Patienten funktioniert oder eben nicht funktioniert. Neben Sicherheit und Wirksamkeit, verdeutlichen sie auch ob Nebenwirkungen einer neuen Behandlung akzeptabel sind und - immer öfter - welche Lebensqualität Patienten mit einer neuen Therapie verbinden. Bei seltenen Krebsarten (Rare Cancers) sind sie ein wichtiger Teil des Behandlungskonzeptes, da hier die Standard-Therapien oft limitiert sind. Dennoch nehmen nur bis zu 5% aller Krebspatienten überhaupt an klinischen Studien teil. Es gibt inzwischen Untersuchen, die zeigen, dass drei von fünf Phase III Studien die notwendigen Patientenzahlen nicht erreichen. Viele Experten kritisieren inzwischen die hohen Kosten von Studien, die lange Dauer, die Realitätsferne der Designs und fehlende Berücksichtigung von Patientenbedürfnissen. FORUM sprach mit Markus Wartenberg, Vorstandsmitglied GIST/Sarkome der Patientenorganisation Das Lebenshaus e.V.* über Klinische Studien aus Sicht der Patienten und der Patientengruppen.
Welches sind wichtige Aspekte beim Thema Klinische Studien aus Patientensicht?
Aus Sicht einer Patientenorganisation ist dies ein extrem wichtiger – aber auch sehr umfangreicher und vielgefächerter Themenkreis. Es beginnt zunächst einmal damit, dass Menschen, die irgendwann einmal eine Diagnose Krebs erhalten – also zu Patienten werden – kaum Kenntnisse über Klinische Studien haben. Die Wenigsten wissen, was Klinische Studien eigentlich sind, wie sie durchgeführt werden - welche Nutzen, welche Risiken sie beinhalten. Geschweige denn, dass sie die Terminologie verstehen, die in Studien heute üblich ist. Vielen Patienten ist anfangs gar nicht bewusst, dass ihre derzeitigen Behandlungsmöglichkeiten darauf beruhen, dass Patienten vor ihnen an Studien teilgenommen, ja davon profitiert oder nicht profitiert haben. Zum Thema Klinische Forschung leisten Gesellschaft und Gesundheitssystem noch viel zu wenig Aufklärungsarbeit. Nicht selten gibt es noch Patienten, die mit klinischen Studien „Experimente“ verbinden und auf keinen Fall „Versuchs-kaninchen“ werden wollen. Oder es herrscht bei Patienten die Meinung, Studien seien die allerletzte Möglichkeit. Also, wenn nichts mehr hilft, dann hilft eventuell noch eine Studie? Beim gesamten Themenkreis Studien leisten etliche Patientenorganisationen seit Jahren wertvolle Aufklärungs- und Unterstützungsarbeit.
Wie eingangs erwähnt, rekrutieren viele Studien schlecht und nur bis zu 5% aller Krebspatienten nehmen an Klinischen Studien Teil. Woran liegt das?
Studien werden seit Jahren für Patenten oder über sie hinweg und nicht mit Patienten gemeinsam entwickelt. Viel zu selten fließen Sichtweisen, Bedürfnisse und Realität von Betroffenen in Designs und Durchführungen von Studien mit ein. Viele Forscher glauben zu wissen, was für Patienten gut ist - anstatt frühzeitig beispielsweise Patientengruppen in die Konzeption einzubeziehen. Von patienten-relevanten Endpunkten möchte ich hier noch gar nicht sprechen. Oft geht es um einfache Faktoren, die darüber entscheiden, ob ein Patient an einer Studie teilnimmt oder nicht.
Viele Studien verlieren im Laufe ihrer Rekrutierung viel zu viele Patienten, die eigentlich für eine klinische Prüfung geeignet gewesen wären. Etliche Untersuchungen haben hier verdeutlicht, dass Studien „Lecks“ haben, die wie bei Wasserleitungen dazu führen, dass man nacheinander Patienten verliert. Eine Untersuchung zeigte, dass von 276 möglichen Studien-Patienten nur 39 (= 14%) eingeschlossen werden konnten. Die Verluste an Patienten lagen im Wesentlichen an drei Faktoren:
- AWARENESS: 38% der Patienten wurden nicht an die Studienzentren überwiesen.
- DESIGN: 56% waren angeblich nicht für die Studie geeignet.
- INFORMATION: 49% waren nicht bereit, die Studieneinwilligung zu unterschreiben.
Deckt sich das mit Ihren Erfahrungen und haben Sie praktische Beispiele?
Absolut! Es beginnt mit der Information über die Existenz einer Studie. Wo sollen Patienten überhaupt Informationen über Studien finden? Bei www.clinicaltrials.gov oder Websites von Pharma-unternehmen? Das ist völlig realitätsfern. Patienten setzen auf ihre behandelnden Ärzte, suchen in ihrer Indikation, bei indikationsspezifischen Kompetenznetzen / Websites / Studienzentren, bekommen Informationen von anderen Patienten oder Patientengruppen. Besonders bei den seltenen Krebsarten kommt, der Zusammenarbeit zwischen Patientengruppen, Experten und Industrie eine hohe Bedeutung zu. Hier geht es darum, die oft nur wenigen Studien – patientenverständlich und zeitgerecht – an die Patienten zu kommunizieren. Zeitgerecht heißt z.B. nicht zu früh, um nicht bei Patienten enorme Hoffnungen zu wecken, die durch langwierige Verzögerungen enttäuscht werden.
Weiter geht es mit der Überweisung von Patienten an Studienzentren: Hier haben wir schon häufig erlebt, dass selbst Ärzte über Studien nicht informiert waren, nicht bereit waren sich um Informationen zu bemühen oder Betroffene sogar nicht an Zentren überwiesen, weil sie Bedenken hatten ihre Patienten zu verlieren.
Über das Design von Studien könnten wir stundenlang sprechen. Hier steht am Anfang die zentrale Frage, welche neuen Erkenntnisse und welche Nutzen die Studie wirklich für Patienten bringt. Wir sehen viel zu viele Studien, die Bekanntes schlichtweg bekräftigen, versuchen - fragwürdige Hypothesen zu bestätigen oder die aus marketing-strategischen Gründen durchgeführt werden. Oft ist das Design – aus den unterschiedlichsten Gründen – realitätsfern – vom Klinik-Alltag und von der Realität der Patienten. Oder es stehen Meinungen von Statistikern, Behörden oder Gesichtspunkte der Zulassung und der Erstattung im Vordergrund. Studien bedeuten oft emotionale, physische oder auch kognitive Belastungen für Patienten, die im Design berücksichtigt werden müssen.
Besonders bei Studien für seltene Krebsarten brauchen wir innovativere – methodologisch andere Ansätze, die der Seltenheit dieser Erkrankungen entsprechen. Die „Multi-Stakeholder Initiative Rare Cancers Europe“ hat hier im Oktober 2014 ein Konsensus-Papier vorgestellt, welches gemeinsame Ideen von Ärzten, Forschern und Patientenvertretern beinhaltet. Im Wesentlichen ging es uns darum, neue Ansätze zu entwickelt, wie man bei seltenen Krebsarten Evidenz generiert. Dazu gehören die Faktorisierung präklinischer Daten, unkontrollierte Studien, Beweise und Analysen von retrospektiven bzw. anekdotischen Fällen sowie neue Formen von randomisierten klinischen Studien.
Zuletzt die Studienaufklärung. Sie lässt oft in der Praxis zu wünschen übrig. Da werden Patienten Studien angeboten, die für ihre Situationen keinerlei Rationale bieten. Patienten fühlen sich bei der Einwilligung unter Zeitdruck gesetzt, haben Studien nicht richtig verstanden oder sind sich gar nicht bewusst Teilnehmer einer Studie zu sein. Ein großes Manko stellt leider noch immer das Aufklärungsmaterial dar. „Informed Consent“ sollte eigentlich das Ziel haben, dass Patienten „gut aufgeklärt zustimmen“ können. Doch sind seitenweise Texte in medizinisch-juristische Sprache und patienten-unfreundliche Aufbereitung (Texte, Grafiken, etc.) wenig dazu geeignet verständlich aufzuklären. Auch hier leisten Patientengruppen inzwischen wertvolle Arbeit, die leider von den „Studienmachern“ noch viel zu wenig wahrgenommen wird.
Sie sprachen von emotionalen, physischen oder auch kognitiven Belastungen für Patienten. Was genau meinen Sie damit?
Wie Sie wissen ist "Krebs" für fast alle Patienten und ihre Angehörigen eine Schocksituation. Das Leben ändert sich plötzlich und tiefgreifend nach einer Diagnose. Dem ersten Schock weicht die Realisierung der enormen physischen, emotionalen und alltäglichen Herausforderungen, die vor den Patienten und ihren Begleitern zu meistern sind. Klinische Studien stellen in dieser Hinsicht noch einmal eine zusätzliche, oft neue Herausforderung dar. Die emotionalen Aspekte: Studien sind für die meisten Patienten etwas Unbekanntes – ein neues Territorium. Sie sind eventuell ängstlich, verwirrt – plötzlich unfähig voran zu gehen, Entscheidungen zu treffen. Hinzu kommt dass sie oft dringend Lösungen brauchen, an welche sie Erwartungen, ja sogar Hoffnungen knüpfen. Die physischen Aspekte betreffen Fragen der Studienorganisation und wie eine solche Studie mit dem Alltag vereinbar ist wie z.B. Entfernungen, Mobilität, Kosten, Zeitplan, Fehltage im Beruf und zusätzliche Untersuchungen. Auch neue, unbekannte Nebenwirkungen und Aspekte der Lebensqualität können hier eine Rolle spielen. Der dritte Bereich sind die „Gedankliche Belastungen“. Welche Vorerfahrungen mit Studien gibt es? Welches Image hat eine Therapie im Markt oder in anderen Indikationen? Welches Verhältnis ergibt sich zwischen Nutzen und Risiken? Die Sorge, Placebo zu bekommen oder die „nicht-innovative Therapie“. Wunsch, nach Kontakt mit anderen Studien-Teilnehmern. Oder: Wenn das „neue“ Medikament bei MIR wirkt, wie lange bekomme ich die Therapie? Solche und viele andere Fragen müssen bei Design und Durchführung von Studien Berücksichtigung finden.
Wo sehen Sie die Lösungen für bessere, patientengerechtere Studien, ja eventuell mehr Teilnahme an Klinischen Studien?
Wie bereits kurz erwähnt: Die Lösung liegt in der engeren Kooperation. Studien mehr aus der Perspektive der Patienten zu entwickeln und intensiver mit Patientengruppen zusammen zu arbeiten. Dieser Appell geht in zwei Richtungen: Zum einen an Ärzte, Studienleiter, Forscher, Industrie-Vertreter - Patientenvertreter sehr frühzeitig in Studien einzubinden und ihr Wissen zu nutzen. Zum anderen an die Patienten- und Selbsthilfegruppen. Den Einbezug in die klinische Forschung zu fordern, sich kompetent einzubringen - sich aber auch frühzeitig aus- und weiterzubilden. Wir brauchen dringend Patientenvertreter, die bei klinischen Studien mitreden können – nicht als Forscher – sondern als realitätsnahe Vertreter der Patienten.
Autor: Markus Wartenberg
*Markus Wartenberg war bis 2019 Vorstandsmitglied der Patientenorganisation "Das Lebenshaus e.V.". Mit Überführung der Bereiche GIST/Sarkome in die Deutsche Sarkom-Stiftung hat Markus Wartenberg die Rolle des stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden in der Stiftung übernommen.