Sarkom Kai Bild Mach MutUhrzeit: 16.05 Uhr
Datum: April 2015
Ort: A2, zwischen Berlin und Göttingen, sitzend in einem Bus. Ich: Männlich, in der Mitte seiner statistischen Lebenserwartung. „Ach - geht mir das gut“, denke ich heute. Ich bin gerade auf der Rückreise von einem Nachsorgetermin bei meinem behandelnden Arzt. Ich fahre über 4 Stunden in „mein“ Sarkom-Zentrum. Ich hatte vor 2 Jahren ein faustgroßes Chondrosarkom rechts im Beckenbereich, bin ohne Biopsie nicht fachgerecht operiert worden, hatte daher vor kurzem zwei weitere OP`s. Resektion 0 im Sarkomzentrum.

 

Seit Wochen überlege ich mir, wie ich mit meinem Weg der Erkrankung anderen Mut machen kann. Ich will einfach ein paar Gedanken auf Papier bringen. Ungeordnet, so wie die Eindrücke beim Blick aus dem Fenster des Reisebusses. Die Diagnose Krebs hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Tränen flossen, Angst machte sich breit, Unsicherheit, wie und was sage ich meinen Kindern, ein unklarer Schatten legt sich auf die Familie, das Unaussprechliche war Teil meines und unseres Lebens geworden. Meine Frau musste viele Male die Frage beantworten, wie es mir geht. Nur ganz wenige fragten sie, was es für sie bedeutet. Ich war und bin dankbar, eine Familie zu haben, die diese Jahre mit mir durchsteht.

Vielleicht schaffe ich/ schaffen wir es auch das Thema Krebs besser in unser Leben zu integrieren, den Schatten etwas zu lüften, nicht zu verdrängen. Die Reisegeschwindigkeit des Busses gefällt mir. Sie entspricht meinem Leben gerade.

Ich lebe langsamer nach der Diagnose und öfters viel bewusster. Vor drei Wochen sehe ich meinem Sohn beim Fußballspiel zu, Punktspiel, es ist kalt, ich bin müde, es regnet. Ich sehe ihm zu und freue mich darüber, bin demütig, und erlebe den Moment ganz bewusst. Es bedeutet mir etwas. Als unsere Tochter morgens zur Schule gefahren werden wollte, da eine Abiturprüfung anstand, auch diesen Moment erlebe ich bewusst, ich bin froh dies zu machen, nehme mir dafür gerne Zeit. Es bedeutet mir etwas.

Meine Diagnose Chondrosarkom G1 vor zwei Jahren hat mich mit einem Schlag auf die Erde geholt. Angefangen hat alles mit einem Knubbel in der Leistengegend. Nach einigen Arztterminen, MRT, CT, usw. kamen alle Ärzte zu dem Ergebnis, gutartiger Tumor, kann raus, ohne Biopsie. Ging dann alles ganz schnell, in einem normalen Krankenhaus. Kurzer Blick aus dem Fenster – die Elbe. Die OP verlief gut. Es wurde ein faustgroßer Tumor entfernt. Ich verließ das Krankenhaus nach gut einer Woche, zu Hause mit Krücken angekommen klingelt das Telefon. Der Arzt rief an, die Biopsieergebnisse sind da. Ich soll sofort ins Krankenhaus zur Besprechung kommen. Meine Frau fuhr mich hin. Da erfuhr ich die Diagnose. Bösartiger Krebs. Der Raps blüht schön draußen. Wir sollten am nächsten Morgen einen Termin in einem Zentrum für Tumore, ca. 300 km entfernt, wahrnehmen. 10 Uhr Termin, der Arzt klang besorgt. Die Kinder bei Freunden untergebracht, keine Zeit Ihnen alles genau zu erklären, was und wie?, Alltag, Schule. Wir fuhren in den Abend, übernachteten vor Ort in einem Hotel, am nächsten Morgen um 10 Uhr im Tumorzentrum. Viel sagen konnten die auch nicht. Sollte weiter dort zur Nachsorge kommen, also weiter dort die Termine in Zukunft einhalten, jeweils mitzubringen ein aktuelles MRT oder CT. Ich hatte Vertrauen in die Ärzte vor der OP, alle sagten ja, der Knubbel ist gutartig, er kann raus, keine Probleme. Ich hatte Vertrauen in den Arzt im Krankenhaus nach der Biopsie und Diagnose Krebs, folgte seinem Rat „Fahren Sie in das Tumorzentrum“.

Warum habe ich das alles so hingenommen? Nicht hinterfragt? Windräder drehen sich im Kreis am Horizont. Das Erinnern ist schwer und wühlt auf. Ich war dann 8x insgesamt in diesem Zentrum. Alle 3-4 Monate. Unzählige MRT, CT, Röntgenbilder später. Fühlte mich gut aufgehoben dort, war ja in einem Zentrum. Nach einem Jahr Nachsorge merkte ich erneut einen Knubbel unter der Hautoberf läche im Beckenbereich. Bei 2 Nachsorgeterminen wurde mir mitgeteilt, dass der Knubbel alles Mögliche sein kann. Keine Sorgen machen. Ich habe mir Sorgen gemacht. Es sollte dann eine Biopsie gemacht werden. Neben dem Knubbel wurden noch zwei weitere Auffälligkeiten tiefer im Beckenbereich entdeckt. Die Ärzte im Tumorzentrum sagten dann, das vermeintliche Rezidiv in Hautnähe sei kein Problem, die tiefer liegenden schon. Sie bekommen eh nicht alles raus. Hä? Wie jetzt? Es muss alles raus! Chondrosarkom G1 Status, da kann man nur operieren. Es gibt keine Alternativen. Ein Lastwagen schiebt sich rechts am Fenster vorbei. Wir überholen. Die Fahrt läuft gut. Ich frage welcher Arzt mich denn operiert. „Wer grad Dienst hat.“ Es war komisch, ich verlor das Vertrauen, den Halt. Die Zweifel wurden größer, bin ich hier richtig in diesem Tumorzentrum, wissen die Ärzte, was die da machen? Zu Beginn der Diagnose Krebs hatte ich wagemutig im Internet ein paar Seiten angeklickt – Chondrosarkom – ich sah amputierte Beine, Patienten deren Leben schwer beeinträchtigt war. Ich habe mich nicht weiter erkundigt. Ich hatte keinen Mut danach. Nun war alles anders. In den wenigen Tagen vor dem vereinbarten Biopsietermin im Tumorzentrum sprach ich mit Freunden und Bekannten, ging wieder ins Internet.

Ich traf auf den Verein „Das Lebenshaus e.V.“. Ich tippte dort das Kontaktfeld an, wollte wissen, welche Erfahrungen der Verein mit meinem Tumorzentrum hat. Die Rückmail kam sofort, ich sollte zurückrufen. Um 20 Uhr rief ich dann sofort an, eine ehrenamtliche Mitarbeiterin nahm sich eine Stunde Zeit für mich. Das änderte alles. Die Wolken stehen ruhig am Himmel, die Fahrt läuft gut. Der Verein „Das Lebenshaus e.V.“ brachte mir das Vertrauen zurück. Ich wechselte sofort in ein vom Verein empfohlenes Sarkomzentrum, auch über 300 km von mir entfernt. Innerhalb von wenigen Tagen hatte ich meinen jetzigen Arzt per Rückruf am Telefon. Meine Frage „Wer operiert mich?“, die Antwort „er selbst“. Resektion 0 stand an – da wuchs ja was! Zwei Wochen später dann bereits die OP mit Biopsie (der Knubbel unter der Haut), fünf weitere Wochen später nochmal eine OP für die tiefer liegenden Rezidive. Wieder ein großer Eingriff. Die Resektion war erfolgreich. Zumindest sind bis heute keine weiteren Rezidive aufgetreten. Von Anfang an war das Gefühl, in guten Händen zu sein, von den Telefonaten mit den Mitarbeitern des Arztes, der Verbindlichkeit, dem Sachverstand, der Ruhe des Arztes, der stationären Unterbringung. Mut, Vertrauen, Zuversicht sind sehr wichtig, schrieb ich nach dem stationären Aufenthalt in das Patientenbuch.

Da ist das kleine Wort MUT, ja Mut. Meiner Angst, die sich über zwei Jahre mit der Diagnose Krebs verbreitet hat, konnte ich nun langsam andere Partner – den Mut, das Vertrauen, die Zuversicht – neben anstellen. Ich habe weiterhin auch Angst, aber sie bestimmt nicht mehr mein Leben. Ich habe Vertrauen in mein Sarkomzentrum, ich habe ein offenes Ohr und Unterstützung, Informationen beim „Lebenshaus e.V.“, ich habe Mut. Ich habe viel ausprobiert die letzten zwei Jahre, mehr Sport, weniger Zucker essen, Aufarbeitung von biografischen Erlebnissen bei einer Gesprächstherapeutin … meine Familie hat mich bei allem begleitet und unterstützt, gelacht, gemeinsam verdrängt, mich abgelenkt, mit mir gezittert vor jedem MRT – Danke.

Ein Schild – Staugefahr – erscheint. Die letzten zwei Jahre haben meine vorherige „Unbeschwertheit“ zerstört, vieles war selbstverständlich, ist es aber heute nicht mehr. Ich bin meinem Leben viel näher als vor den zwei Jahren, ich lebe viel bewusster. Ich habe viel umgestellt und habe noch viele Veränderungen vor mir. „Ach - geht mir das gut“ klingt nach zwei Jahren Krebsdiagnose und drei OP`s merkwürdig, doch es beschreibt, wo ich gerade stehe. Ich habe wieder Kraft gefunden, mein Leben zu leben. Jetzt stehen wir in einem Stau. Na und, ich werde schon ankommen, ich habe da Zuversicht. Der Bus kam dann sogar fünf Minuten früher als geplant in Göttingen an.

Mein Nachtrag: 4 Jahre später

Ein Blick auf meinen Schlüsselanhänger – Mir geht’s gut – steht da drauf. Was für ein Zufall. Ich nehme es erst jetzt bewusst war. Die letzten 4 Jahre habe ich weiterhin ohne Rezidiv überstanden. Ich bin einmal im Jahr in Berlin in meinem Sarkom Zentrum. Ich habe volles Vertrauen in die Ärzte und Mitarbeiter. Mit diesem Vertrauen schaffe ich es immer besser, die Angst und die Unsicherheit, die durch den Tumor 2013 plötzlich da war, in den Griff zu bekommen. Mittlerweile habe ich einen Schwerbehindertenausweis, 100 % steht da drauf, bis erstmal 2020. Der Vorteil: 5 Tage Extra Urlaub im Jahr. Zudem einen Narbenbruch, ich kann keine volle Wasserkiste mehr heben. Muss ich auch nicht. Es geht auch anders. Einer meiner letzten Sätze in der Geschichte vor 4 Jahren war, `Ich habe wieder Kraft gefunden, mein Leben zu leben`. Ich will dies hier nun kurz ergänzen. Die Krankheit hat mich anfangs passiv gemacht, sie hat von mir Besitz ergriffen. Dem habe ich nun etwas aktiv entgegengesetzt. Ich nenne es Kraftorte und Kraftmenschen. Neben der Familie, dem Dorfleben, den alltäglichen Dingen, die mir Kraft geben, bin ich aktiv mit Orten und Menschen in Kontakt, die mir zusätzlich Kraft geben. Beispiele meiner `zusätzlichen` Kraftorte und Kraftmenschen: Das Tumorzentrum in Berlin, ich fahre da mittlerweile `gerne` hin. Der Termin steht so fest wie das Weihnachtsfest. Mein Lieblings Café, in dem ich gerade sitze, und dank dieser zusätzlichen Kraft diese Zeilen schreibe. Ein Espresso, 10 Minuten Kraft tanken. Ein guter Freund in Berlin, bei dem ich übernachten und alte Geschichten erzählen kann, bevor es am anderen Tag ins Tumorzentrum geht. Ein guter Freund, mit dem ich mindestens 1x im Jahr nach Süditalien in sein Ferienhaus fahre, auch nur 2-3 Tage. Und ich mir nicht die Frage stelle, lohnt sich das. Denn, es lohnt sich. Eine besondere Runde mit dem Hund, mit schönem Weitblick bis zum Brocken, die mir Kraft gibt. Ein Gespräch mit meinem Bruder, welches ich schon lange vor mir herschiebe. Eine Übernachtung in einer Berghütte in den Alpen, weil ich das schon immer machen wollte. Meine Kraftorte und Kraftmenschen machen mir Mut. Die Orte und Menschen sind nah und fern, ich entdecke immer wieder auch neue. Ich stärke mich dadurch. Ich bin aktiv. Vielen Dank für die Gelegenheit, mit diesem Nachtrag, dieser Ergänzung, mir darüber wieder klarer und bewusster geworden zu sein. Die Erkrankung hat mir die Chance gegeben, viele Dinge anders zu sehen. Ich nutze diese Chance sehr, ich lerne viel dazu.

Es geht mir gut.

Kai, 47 Jahre
Chondrosarkom seit 2013